von Atmani
Im Übergang zur Gegenwart bedarf es einiger Grundgedanken, um den ‚Manengesang‘ menschenkundlich einordnen zu können. In großen Linien lässt sich festhalten, dass die Musik rund 300 Jahrhunderte später das künstlerisch gestaltet, was die Malerei hervorgebracht hat. Was in der Renaissance in den Mittelpunkt gestellt und entdeckt wurde: der Mensch konnte von Michelangelo und Raffaelo u.v.a. Künstlern erfasst werden: der Mensch in seinem Darinnenstehen in der Welt. Mit Haydn, Mozart und Beethoven wird der physische Bau des Menschen in der Sonatenform erfasst. (In der Dreigliederung Exposition, Durchführung und Reprise wird morphologisch die Dreigliederung des Menschen in Sinnes-Nervensystem, Rhythmisches System und Gliedmaßen-System abgebildet). Nach der beginnenden Auflösung aller alten Tonartbeziehungen durch Richard Wagner (‚Tristan und Isolde‘) verlieren sich die physisch-gültigen Beziehungen innerhalb des physischen Leibesgefüges. Dies geschieht durch die Chromatik, die vor allem Richard Wagner, Franz Liszt aber auch Claude Debussy in die Musiksprache einfügen. Während die Malerei über Turner und Kandinsky weiterschreitet in die Ablösung der Farbe von der Form, sind die führenden Vertreter der Musik noch beschäftigt die alte Musikgeschichte zu ihrem Ende zu bringen. Mit Professor Hermann Pfrogner sind sie Vollender des Alten.
„Was Strawinsky, Bartók und Hindemith, diese drei großen »alten Männer« einstiger tonaler Avantgarde betrifft, so ist inzwischen wohl allerseits längst zur unumstößlichen Gewißheit geworden, daß sie trotz allen Elans vorwiegend mehr Vollender des Alten, als Wegbereiter des Neuen waren.“
Prof. Hermann Pfrogner, ‚Lebendige Tonwelt zum Phänomen der Musik‘, S. 389
Denn der wirkliche Überwinder aller Kadenz ist Claude Debussy. In ihm vollzieht sich, was in der Malerei seit der Renaissance schrittweise vollzogen wurde: die Ablösung der Farbe von der Form, indem er das tonale Kadenzsystem, das dem physischen Bau des Menschen entspricht (Tonika, Dominante, Subdominante), ganz verlässt. Debussy entspricht also ungefähr William Turner, der mit fortgeschrittenem Alter die Farbe selbst sprechen lässt und die Motivik nicht mehr der Farbe aufzwingen muss.
Claude Debussy wehrt sich gegen die von den Kunstkritikern gegebene Einordnung der Bilder von William Turner und seines Werkes in einen sogenannten Impressionismus.
„»Ich versuche etwas ›anderes‹ zu machen, - irgendwie ›Wirklichkeiten‹, - was die Einfaltspinsel ›Impressionismus‹ nennen, ein Terminus, der so schlecht als nur möglich angewendet wird, vor allem von den Kunstkritikern, die sogar nicht zaudern, Turner damit auszustaffieren, den schönsten Schöpfer des Geheimen, den es in er Kunst geben mag« (»J’essaie de faire ›autre chose‹ - en quelque sorte, de ›réalités‹ - ce que les imbéciles appellent ›impressionisme‹, terme aussi mal employé que possible, surtout par les critiques d’art, qui n’hésitent pas à en affubler Turner, le plus beau createur de mystère qui soit en art«).“
Ebenda, S. 391
(J. Durand: Lettres de Cl. Debussy à son éditeur, Paris 1927, S. 58)
Um Realitäten und das Mysterium geht es Debussy, zwei Begriffe, auf die auch Rudolf Steiner sein Gesamtwerk aufbaut (Realismus und Mysterium). Ähnlich William Turner geht es Claude Debussy um das Aufnehmen von Naturgewalten, die in der Ablösung von der alten Form „objektiv-lebendig“ (nach Hermann Pfrogner) dargestellt werden. Debussy verweist auf Carl Maria von Weber, der „…»vielleicht als allererster beunruhigt war durch die Beziehung, die es zwischen der unermeßlichen Seele der Natur und der Seele eines Menschen geben muß« (»inquiété, peut-être le premier, par le rapport qu’il doit y avoir entre l’âme d’un personnage«).“
Ebenda, S. 392
(Claude Debussy: Monsieur Corche antidilletante, Paris 1921, S. 99)
Damit ist der Begriff der Seele der Natur und der Seele des Menschen in der Musik ins Bewusstsein gebracht.
„»Ergibt sich einem denn das Geheimnis eines Forstes, indem man die Höhe seiner Bäume mißt? Oder ist es nicht vielmehr seine unergründliche Tiefe, die der Imagination Tür und Tor öffnet?« (»Rend-on le mystère d’une fôret en mesurant la hauteur de ses arbres? Et n‘est-ce pas plutôt sa profondeur insondable qui declanche l’imagination?«)”.
Ebenda, S. 392
(Claude Debussy: Monsieur Corche antidilletante, Paris 1921, S. 115)
Debussy möchte also im Lebendig-Objektiven der Natur die Realität suchen und in der Komposition die künstlerische Begegnung der eigenen Seele mit der Seele der Natur erfassen. Und damit weitet Claude Debussy den Blick über ein Verständnis der Musik, die im Subjektivismus stecken zu bleiben drohte. Es gibt eine „wirklichkeitsgemäße Zukunft“ der Neuen Musik, der das Tor aufgestoßen wird.
Aber Debussy wurde gleich mit der Entstehung seiner Werke zurückgestoßen. Auf der einen Seite sind es die Menschen, die mit dem Begriff Impressionismus William Turner und Claude Debussy eine Silhouette geben wollen, die der dem Wesen des Werkes von ihm nicht entspricht, auf der anderen Seite ist es Jean Cocteau, der als Vertreter der „bodenständigen“ Franzosen auf Debussy zielt:
„»Schluß mit den Wolken, den Wellen, den Aquarien, den Undinen und den nächtlichen Düften; wir brauchen eine Musik, die fest auf Erden steht, eine ALLTAGSMUSIK« (»Assez de nuages, de vagues, d’auariums, d’ondines, et de parfums la nuit; il nous faut une musique sur la terre, UNE MUSIQUE DE TOUS LES JOURS«)“.
Ebenda, S. 393
(J. Cocteau: Le coq et l’arlequin 1918, in: Le rappel à L’ordre, Paris; Neuauflage 1948, S. 28)
Und dieses Wort hatte die Folge, dass sich Claude Debussy zurückzog, um nur noch dem Vergangenen entgegenzukommen. Er komponiert 3 Sonaten, die er aber so einschätzt:
„»Was ich jetzt schreibe, scheint mir stets von gestern, nie von morgen« (»Maintenant ce que j’écris me semble toujours de la veille, jamais du lendemain«)“.
Ebenda, S. 393
(H. Strobel: Cl. Debussy, Zürich 1940, 5. Auflage 1961, S. 236)
Es war damit vertan die Möglichkeit, aus der Ablösung des Tones von aller Form neue Musikformen zu finden. Die Tür war zugeschlagen. Das also, was in der Malerei in Kandinsky, Jawlensky und Rudolf Steiner zur Erfüllung kam (am meisten in Beppe Assenza, den berühmten italienischen Maler!), wurde in der Musik verhindert. Und an Stelle dessen traten in Strawinsky, Hindemith und Bartok die drei Vollender des Alten (Hermann Pfrogner, ‚Lebendige Tonwelt‘, S. 393), denn alle drei mündeten früher oder später im „Klassizismus“ ein.
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Gegenüber Debussy bemüht sich Arnold Schönberg die Objektivität nicht außen in der Natur sondern innen im Menschen zu finden. Für Arnold Schönberg war Dur und Moll das Subjektiv-Seelische, das er nun ersetzen wollte durch das Objektiv-Seelische. Dies äußert sich in dem Verbot, bei einer Zwölftonreihe einen Dreiklang bilden zu dürfen.
Mit diesem Schritt vollzieht Schönberg die Trennung von der Seele und mit ihm alle seine Schüler (Alban Berg, Anton von Webern …).
Allein Josef Matthias Hauer hält im Übergang zur Zwölftonmusik den Bezug zu Dur und Moll aufrecht. Hauer gründet sich in Goethe. Und Goethe hatte für alle Gebiete das Gesetz der Polarität formuliert. An Hand der Farbenlehre lässt Goethe die Farben zwischen Licht und Finsternis entstehen. Diese beiden sind Urpole, denen wir selbst Wesenscharakter zusprechen, dem Licht das Dur und dem Moll die Finsternis. Dies sind die Urbegegnungen des Menschen. Die Seele dehnt sich aus Dur und zieht sich zusammen Moll. Hauer ist der moderne Vertreter des Melos. Allein in Hauer und Debussy sieht der Verfasser und Komponist des ‚Manengesang‘ gültige Vorbereiter einer zeitgemäßen Musik, die menschengemäß die Seele berührt und zugleich das Mysterium des Menschen streift.
Im ‚Manengesang‘ wird die Ablösung des Tones von der Form vollzogen und zugleich eine neue Methode der Komposition entwickelt, die aus dem Menschenwesen selbst stammt.
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Hier wollen wir den Bogen zu Novalis spannen, der in einem Fragment formuliert hat, was das Wesen dessen ist, was sowohl Debussy als auch Hauer gesucht haben, was aber immer noch Gültigkeit hat in alle Zukunft hinein:
„Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisierung ist nichts anderes als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst identifiziert. … Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein Geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen Unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
Novalis
Ebenso wie bei Debussy (Impressionist) ist es völlig unangemessen, Novalis einen Romantiker zu nennen.
Das, was Novalis sucht, ist das Ätherische, nur hat er den Begriff noch nicht für das, was er das Geheimnisvolle nennt.
In Goethe finden wir den großen Gegensatz zu Novalis. Goethe artikuliert eine Tonlehre, die das Tonwesen in sich trägt. Ernst Jürgen Dreyer hat das Tonwesen in "Goethes Tonwissenschaft" als Monade beschrieben.
Der Urgegensatz von Dur und Moll ist die Urbewegung der Menschenseele in Zusammenziehung und Ausdehnung. Diese Urbewegung geschieht nach der Geburt des inneren Menschen auf neue Weise. Dort, wo der alte Mensch noch die Gesetze des physischen Leibes befolgen musste, kann der innere Mensch nun Zustände beschreiten. Diese vollziehen sich in der Zeit, also im Nacheinander und nicht mehr wie beim alten Menschen im Raum (physischer Leib).
Im ‚Manengesang‘ werden Lied um Lied die Stufen vorgestellt, die die Seele im zweiten Menschen durchmacht, bis sie zu Aurora (und dem Kreuzgeschehen) in sich selbst durchdringt.
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